Thesenpapier zum ländlichen Raum von Manuela Rottmann und Ludwig Hartmann

Die Fesseln sprengen:


Sechs Grüne Antworten für den Aufbruch auf dem Land

Wir stehen vor einem Aufbruch: Unsere Art zu wirtschaften, zu wohnen, zu leben und uns fortzubewegen wird sich in den nächsten Jahren grundlegend verändern: Weil wir in wenigen Jahren CO2-Neutralität erreichen werden. Und weil die Digitalisierung uns neue Möglichkeiten eröffnet. Wenn wir jetzt die Fesseln sprengen, werden die ländlichen Räume die Vorreiter dieser Entwicklung zu einem neuen Wohlstand sein.

Was ist eigentlich „der ländliche Raum“? [1]
 

Es ist wichtig, ländliche Räume von Ballungsräumen und Speckgürteln zu unterscheiden, um ihren besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden. Umlandkreise der Stadt München mit S-Bahn-Anschluss bis in die Innenstadt gehören für uns nicht zum ländlichen Raum. In Bayern machen die ländlichen Gebiete je nach Definition (sehr/ weniger ländlich, Fläche, Bevölkerung etc.) einen Anteil von einem bis zwei Drittel aus. [2]

Ländliche Räume sind dünner besiedelt, weiter von Ballungsräumen entfernt. Der Anteil land- und forstwirt-schaftlicher Flächen ist höher. Die kommunalen Verwaltungen in Städten und Gemeinden sind klein. Tendenziell werden weniger öffentliche Güter durch Staat oder Kommunen bereitgestellt wie Sicherheit, Wohnungen, Kultur, öffentlicher Verkehr. Dafür ist die Selbstorganisation der Menschen in Vereinen höher, genauso wie der Anteil der Bewohner*innen mit eigenem Auto.

Jenseits dieser Kernmerkmale unterscheiden sich ländliche Räume aber auch untereinander. So unterschied-lich Bayerns Landschaften sind, so unterschiedlich sind die Lebensbedingungen in den Orten. Manche sind wohlhabend, andere haben eher eine geringe Steuerkraft. Manche sind industriell oder handwerklich geprägt, andere eher touristisch. Mancherorts dominieren intensiv genutzte landwirtschaftliche Fläche, breit ausgebaute Bundesverkehrswege oder flächenintensives Gewerbe, andernorts unberührte Natur.

Selten entspricht das Leben in ländlichen Räumen den Klischees. Weder denen aus Zeitschriften mit Namen wie „Landliebe“ noch denen aus den Schreckensszenarien mit dem Titel „Landflucht“. Die Leute laufen nicht den ganzen Tag in Tracht durch die Gegend, und die wenigsten von ihnen arbeiten in der Landwirtschaft. Wesentliche Innovationen der letzten Jahrzehnte wurden auf dem Land erdacht, etwa das Prinzip der kostendeckenden Einspeisevergütung, aus dem das Erneuerbare-Energien-Gesetz und ein weltweiter Boom von Windenergie und Photovoltaik entstanden.

Das Land ist weder Idyll noch Diaspora. Das Land hat ganz eigene Potenziale. Ohne das Land werden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern: Ohne Land gibt es keine Ernährungswende, keine Energiewende, keine Verkehrswende, kein gutes Leben für unsere Kinder und Enkelkinder. Es ist der Pionierraum für einen neuen Wohlstand. Mit sechs Thesen wollen wir beschreiben, wie wir die Kräfte der Menschen in den ländlichen Räumen von Fesseln befreien.

[1] Hierzu https://www.bpb.de/izpb/laendliche-raeume-343/312687/was-sind-eigentlich-laendliche-raeume
[2] Vgl. https://karten.landatlas.de/app/landatlas/

1. Mehr kommunale Selbstständigkeit und Kreativität entfesseln
 

Bundes- und Landespolitik wird in großen Städten gemacht, auch die für die ländlichen Räume. Dort werden Rechtsrahmen und Förderprogramme für ländliche Räume festgelegt, nicht in den Stadt- und Gemeinderäten oder in den Bürgerversammlungen auf dem Land.

Abschaffung der Straßenausbaubeiträge, keine Grundsteuer C auf unbebaute Grundstücke, fehlende Langfristigkeit bei ÖPNV-Mitteln: Frei verfügbare Mittel haben die Kommunen immer weniger, während kommunale Pflichtaufgaben wie kostenintensive Straßen- oder Kanalsanierungen eher mehr werden. Spielraum für gewünschte Innovationen bleibt unter der Last der Pflichten weder zeitlich noch finanziell – zum Beispiel für die Schwimmbadsanierung oder einen Jugendtreffpunkt.

Die Nutzung von Fördermitteln für Einzelmaßnahmen oder zeitlich befristete Projekte gewinnt hingegen immer mehr an Bedeutung. Dabei bleiben die Ideen, die Netzwerke und das Wissen über die Bedürfnisse vor Ort oft ungenutzt. Das Ringen in den kommunalen Gremien zwischen unterschiedlichen Projekten und die damit verbundene Schwerpunktsetzung entfällt. Gebaut wird, was gefördert wird, und zwar so, dass die maximale Fördersumme erreicht wird. Den Förderdschungel wollen wir lichten: Wenige flexible Programme mit klaren Zielsetzungen sind der bessere Weg.

Die Menschen im ländlichen Raum wissen aber selbst am besten, was sie vor Ort benötigen. Deshalb wollen wir den Kräften der Selbstbestimmung freien Lauf lassen. Dafür brauchen wir mehr frei verfügbares Geld in den Städten und Gemeinden, zum Beispiel über Regionalbudgets. Das fördert die Kooperation der Nachbar- gemeinden und führt zu einem bedarfsorientierten Mitteleinsatz. Wenn Gestaltungsräume offenbleiben, werden sie von den Menschen vor Ort sinnvoll genutzt. Die Energiewende sichert im ländlichen Raum dauerhaft konjunkturunabhängige Einnahmen für die Gemeinden. Der sparsame Umgang mit Flächen sichert finanzielle Spielräume für die Zukunft und verhindert die Überschuldung in der nächsten Generation.

Auch rechtlich sollten Kommunen mehr eigene Entscheidungsspielräume erhalten: Wo Tempo 30 sinnvoll ist, kann vor Ort entschieden werden. Die Möglichkeit, einfacher Baugebote zu erlassen, brauchen nicht nur die Ballungsräume, sondern gerade die ländlichen Kommunen. So können sie den Flächenbedarf mit erschlossenen Grundstücken decken, anstatt immer wieder neue Baugebiete erschließen zu müssen. Experimentierklauseln für kleine Gemeinden, zum Beispiel für flexiblere Formen der Kinderbetreuung, können die Selbstbestimmung
vor Ort erweitern.

Förderung brauchen die Kommunen vor allem für die überörtlich bedeutsame, unverzichtbare Daseinsvorsorge wie Büchereien, Sportstätten, barrierefreier Mietwohnraum oder Kultureinrichtungen: Dass immer weniger Kinder gut genug schwimmen lernen, weil sich die Gemeinden zwischen Kanal- und Schwimmbadsanierung entscheiden müssen, ist eines reichen Bundeslandes wie Bayern unwürdig. Dabei belohnen wir diejenigen Kommunen, die mit anderen zusammenarbeiten.


2. Befreiung vom Autozwang
 

Mobilität ist das Lebenselixier für die ländlichen Räume: Die Auslastung von Kultureinrichtungen, der Fortbe-stand einer gemeinsamen Jugendmannschaft, das Erlernen eines Instruments oder der Ausbildungsbeginn bei der Traumlehrstelle – fast alles hängt davon ab, ob die Menschen zu vernünftigen Bedingungen von A nach B kommen.


Das eigene Auto wird auf dem Land dauerhaft eine wichtige Funktion behalten, aber in Zukunft ein E-Auto sein. Der Umstieg auf den Elektroantrieb ist auf dem Land für viele Menschen deutlich einfacher als in der Stadt: Der eigene Strom kommt vom Dach, das Auto lädt in der Garage. Die Kosten für Elektroautos werden geringer sein als die für Verbrenner. Dennoch ist mobil sein auf dem Land durch den Mangel an Alternativen zum Auto teuer und umständlich: Das Zweit- und Drittauto verschlingt Unsummen nur für die Fixkosten. Menschen, die zu jung sind, die nicht mehr selbst fahren können oder wollen, die sich kein Auto leisten können oder die auch mal ohne Auto ausgehen wollen, brauchen eine alltagstaugliche Alternative.

Dafür brauchen wir:

  • Eine Vernetzung von Bussen, Bahnen und Rufangeboten
  • Ein einfach verständliches Nahverkehrsangebot
  • Die Reaktivierung von Bahnstrecken als Rückgrat eines konkurrenzfähigen Angebots
  • Clevere Lösungen für den Weg von der Haltestelle zur eigenen Haustür durch Vernetzung von Radverkehr, Car-Sharing und Rufangeboten

Wir machen den ländlichen Raum zum Vorreiter für innovative Mobilität jenseits des eigenen Autos. Damit lösen wir eine wesentliche Bremse für die Entwicklung dünner besiedelter Regionen.

3. Das Geld bleibt im Ort

Die Verkehrs-, die Ernährungs- und die Energiewende und die Digitalisierung sind unsere Chance, noch mehr Wertschöpfung in unseren Regionen zu halten. Wir erzeugen unsere Energie selbst und verdienen daran mit. Wir setzen den großen Discountern die moderne Vermarktung unserer vor Ort erzeugten landwirtschaftlichen Produkte entgegen. Unsere eigenen Lieferdienste stärken unseren Einzelhandel und den Absatz regionaler Produkte und sind die richtige Antwort auf die Bedürfnisse von Doppelverdiener-Haushalten und einer weniger mobilen, älteren Landbevölkerung. Wo es sinnvoll ist, schaffen wir wieder kommunale oder genossenschaftliche Infrastruktur zur Lebensmittelverarbeitung und für deren Vertrieb: regionale Schlachtereien, Molkereien oder Mühlen. So sind wir nicht von großen, zentralen Einheiten abhängig.

4. Nachhaltig fördern heißt Vernetzung fördern

Der Zusammenhalt auf dem Land lebt von der Begegnung der Menschen. Wirtschaftliche Innovation ist auf Netzwerke angewiesen, auf den Austausch von Ideen und den Zugang zu finanziellen Mitteln. Es geht nicht darum, die ländlichen Räume mit Fördermitteln zu Heimatmuseen zu machen. Es geht darum, Selbständigkeit, Innovation und Unternehmertum zu unterstützen. Wir fördern dauerhafte Strukturen, die die Entwicklung und Umsetzung eigener Ideen aus eigener Kraft erleichtern. Wir unterstützen diese Strukturen, wo es sie noch gibt, und schaffen sie neu, wo sie mittlerweile fehlen. Die jeweiligen Schwerpunkte legt die Kommunalpolitik vor Ort gemeinsam mit Unternehmen und Bürgerinnen und Bürgern fest. Dazu können etwa gemeinsame Initiativen von Unternehmen zur Fachkräftegewinnung, Gründungs- und Finanzierungsnetzwerke, Forschungsverbünde zwischen Kommunen, Unternehmen und Hochschulen oder Bildungs- und Innovationsverbünde zwischen Innungen, Berufsbildenden Schulen und weiteren Akteuren zählen.

Neue Arbeitsformen wie Co-Working-Spaces werden für den ländlichen Raum eine viel bedeutsamere Rolle als für Ballungsräume spielen. Das senkt den Pendelverkehr, stärkt die regionalen Wertschöpfungsmöglichkeiten und erhöht die Lebensqualität der Berufstätigen. Die zügige Digitalisierung wollen wir umsetzen, nicht nur versprechen. Für Daueraufgaben wie Digitalisierung und Klimaschutz braucht es auch dauerhafte Kompetenz in den Kommunalverwaltungen, keine befristeten Projekte mit befristeten Arbeitsverträgen.

5. Starke Frauen – starkes Land

Dort wo die jungen Familien bleiben, da sind Orte lebendig. Gerade die Erwartungen junger Frauen an ihr Lebensumfeld haben sich aber in den letzten Jahren deutlich verändert. Hochqualifizierte junge Frauen wollen sich beruflich verwirklichen, sich ehrenamtlich engagieren und ihre Kinder mit der Freiheit groß werden lassen, die auf dem Land möglich ist. Die Strukturen sind aber oft noch auf die herkömmliche Hausfrauenehe eingestellt: Ein Teil steckt beruflich in Teilzeitarbeit zurück, um den Fahrdienst für Kinder und ältere Angehörige
und all die anderen aufwändigen Alltagserledigungen zu übernehmen, während der Haupternährer oder die Haupternährerin weite Strecken zur Arbeit pendelt. Für Alleinerziehende ist die Lage noch deutlich herausfordernder.

Wir legen daher einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Beteiligung und der Lebensbedingungen für Frauen im ländlichen Raum. Mit guten Mobilitätsangeboten für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen machen wir den Alltag für alle Generationen leichter. Mit neuen Arbeitsformen wie Teil-Home-Office und dem dafür nötigen digitalen und räumlichen Angebot auf dem Land verringern wir den Druck zu pendeln und erleichtern die Aufteilung der Familienarbeit und den Zugang zu hochqualifizierten Beschäftigungen. Wir denken bei der Gewinnung von Fachkräften nicht mehr an den Hauptverdiener, sondern an Paare, die sich gemeinsam für eine Region entscheiden. Mit der Förderung kreativer Betreuungsangebote ermöglichen wir ehrenamtliches und kommunalpolitisches Engagement von Müttern und Vätern oder pflegenden Angehörigen.

6. Ländlicher Raum: Vorreiter auf dem Weg zur Nachhaltigkeit

Deutschland muss in wenigen Jahren treibhausgasneutral werden. Der Erhalt der Artenvielfalt, der nachhaltige Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen wie Boden und Wasser ist die zweite zentrale Herausforderung unserer Generation. Treiber dieses Wandels wird die Bevölkerung in den ländlichen Räumen sein. Dort finden Energie-, Landwirtschafts- und Ernährungswende statt. Dort liegen die Hot-Spots der Artenvielfalt. Dort liegt aber auch ein Großteil unseres kulturellen und baulichen Erbes.

Während der Wandel in den großen Städten stark politisch gesteuert werden muss, können und müssen die Menschen auf dem Land vieles selbst in die Hand nehmen. Sie müssen in der Regel für eine energetische Sanierung nicht auf ihren Vermieter warten, sondern entscheiden selbst, ob sie ihr Haus sanieren. Sie und ihre Kommunen sind nicht selten Eigentümer von land- und forstwirtschaftlichen Flächen und entscheiden selbst darüber, wie sie diese nutzen und an wen sie die Produkte liefern. Das bedeutet eine größere Gestaltungsfrei- heit als in den Ballungsräumen, aber auch eine größere Eigenverantwortung, aus der keine Überforderung entstehen darf.

Wenn wir es richtig anpacken, sind die Chancen dieses Wandels für die ländlichen Räume größer als für die Städte. Kommunen, Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger in den ländlichen Räumen sollen davon profi- tieren, dass sie Gemeingüter für uns alle bereitstellen. Wir wollen ihnen selbst Entscheidungsspielräume eröffnen, Hindernisse aus dem Weg räumen, Experimente und Innovation zulassen und besondere Herausforderungen als Herausforderung des ganzen Landes gemeinsam annehmen.

Wir lenken Mittel für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs gezielt auf das Land, legen die Energiewende wieder in die Hände von Bürgerinnen und Bürgern und Kommunen. Wir stellen Mittel und Wissen für die Überführung des Gebäudebestands in ländlichen Regionen in eine barrierefreie, moderne, CO2-neutrale und digitale Zukunft zur Verfügung. Wo Energie produziert wird, soll auch davon profitiert werden. Wir wollen, dass die Erzeugung Erneuerbarer Energien durch Windräder, Photovoltaik usw. über eine Neuausrichtung des kommunalen Finanzausgleichs vergütet werden. Dann finanzieren die Windräder am Ort indirekt einen Teil des Schwimmbads. So schaffen wir Regionen der Energiegewinner, und die Klimaneutralität findet dort ihren
Anfang, wo der Pioniergeist zuhause ist: Auf dem Land.

KONTAKT


Ludwig Hartmann, MdL
Fraktionsvorsitzender, Sprecher für den ländlichen Raum
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
im Bayerischen Landtag
Maximilianeum, 81627 München

Tel.: 089 4126-2989
Fax: 089 4126-1989

Ludwig.Hartmann@grueneby.de
www.gruene-fraktion-bayern.de

Dr. Manuela Rottmann, MdB
Bundestagsabgeordnete, Obfrau im Rechtsausschuss des Bundestags
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundestagsfraktion
Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin

Tel.: 030 227 74140
Fax: 030 227 70140


manuela.rottmann@bundestag.de
www.gruene-bundestag.de

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